Papenburg – Wenn Anne Flock heute über das Gelände der ehemaligen Erziehungsanstalt Johannesburg in Börgermoor spricht, tut sie das nicht als distanzierte Chronistin. Ihr Vater Mathias und seine Brüder – Heimkinder der ersten Generation – wurden in der Nachkriegszeit dort untergebracht. Gewalt, Isolation und wirtschaftliche Ausbeutung prägten ihren Alltag. Jahrzehnte später erlebt Anne selbst als Teil der zweiten Generation die Folgen: Zerstörte Beziehungen, Trennung der Eltern, eigene Kindheit im Heim – und schließlich Adoption.
Gewalt als Erziehung – Der frühe Tod von Fritz Flock
Fritz Flock, einer der Brüder, wurde mit 17 Jahren an einen Bauernhof „vermittelt“. Nur drei Wochen später kam er bei der Feldarbeit ums Leben – zu schwach, um ein durchgehendes Pferd zu halten. Trotz ärztlich verordneter „Sahnekuren“ blieb er unterernährt. Ein Arbeitsvertrag zwischen dem Heim und dem Landwirt liegt vor. Statt Empathie reagierte das Landesjugendamt nach der Beerdigung mit Unverständnis – man beschwerte sich darüber, dass die Eltern zwei weitere Kinder nicht wieder zurück ins Heim schickten.
„Zögmankes“ und Stigmatisierung
In den 1950er bis 1970er Jahren war der Begriff „Zögmankes“ in Papenburg negativ behaftet – ein Schimpfwort für die Jungen von der Johannesburg. Diese galten als „nicht spurtend“ oder „nicht brauchbar“, wurden ans Ende der Stadt verbannt. Anne Flocks Vater Mathias war einer von ihnen – weggeschickt, gebrochen, zurückgelassen.

Zweite Generation: Wenn Gewalt weitervererbt wird
Anne Flock wurde 1957 in Sögel geboren, kam 1962 als Kind nach Papenburg in eine Pflegefamilie – ein Ergebnis des Zerbrechens ihrer Ursprungsfamilie. Auch sie und ihr Bruder Robert verbrachten Zeit im Kinderheim, bevor sie adoptiert wurden.
„Die Lieblosigkeit und Gewalt aus der ersten Generation hat sich in unsere Familien getragen“, sagt sie heute.
Wissenschaftliche Aufarbeitung – und Ignoranz der Institutionen
Im Jahr 2010 beginnt Anne Flock, die Geschichte ihrer Familie aufzuarbeiten. Aus dem Niedersächsischen Landesarchiv Hannover und dem Archiv der Johannesburg Börgermoor erhält sie Akten, Briefe, Vermerke – 650 Seiten. Sie transkribiert alles, druckt das Werk 100-fach in Buchform, verschickt es an zahlreiche Stellen: Bistum Osnabrück, Casianerbrüder Münster, den Runden Tisch, Universitäten, Missbrauchsbeauftragte.
Die Reaktionen?
„Bla, bla, bla – und ein Achselzucken. Weil ich angeblich nicht direkt betroffen bin.“
Der Fall Theo – eine späte Begegnung
Onkel Theo, ein weiterer Bruder ihres Vaters, lebte zuletzt obdachlos in Vlissingen (Niederlande). Anne fand ihn über einen Zeitungsartikel. Er erinnerte sich kaum an seine Kindheit – nur daran, dass er „immer bei fremden Leuten gearbeitet“ hatte.
„Ich konnte ihm ein Foto seiner Mutter schenken – das erste in seinem Leben. Er war über 80.“
Theo verstarb 2023. Mit ihm starb ein weiteres Opfer einer verdrängten Geschichte.
Kein Besuch, kein Schweigen
Anne Flock hat ein Exemplar ihres Buches persönlich bei den Casianerbrüdern in Münster abgegeben. Die Reaktion eines leitenden Bruders:
„Was soll ich damit anfangen?“
Ihre Antwort:
„Lesen. In erster Linie lesen.“
Ein weiteres Exemplar schickte sie an den Missbrauchsbeauftragten Dr. Trouw. Die erste Reaktion: Urlaub auf unbestimmte Zeit. Später: keine Zuständigkeit.
Eine Einladung zur Besichtigung der Johannesburg lehnte sie ab – stattdessen fuhr sie mit ihrem Mann Rad. Von Lübeck bis zur polnischen Grenze, von der polnischen Grenze bis an den Rand Russlands.
„2022 wollten wir bis ans Schwarze Meer. Die politische Lage hat es verhindert.“
Erinnerung als Widerstand
Anne Flocks Aufarbeitung ist kein Ruf nach Mitleid, sondern nach Verantwortung. Ihr Leitspruch:
„Feuer mit Feuer bekämpfen.“
Sie ist Marathonläuferin, Triathletin, Radreisende – immer in Bewegung, aber nie auf der Flucht. „Ich habe alle Familienmitglieder wiedergefunden – und mit ihnen ihre Geschichten. Ganz oft hilft nur Laufen und Radfahren.“
Informationen zur offiziellen Hilfe für Heimkinder der Nachkriegszeit bietet die Stiftung Anerkennung und Hilfe: www.anerkennung-und-hilfe.de
