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Tilda zählt Bahnen

Tilda zählt Bahnen – und die Last auf ihren Schultern

Abends im Freibad, irgendwo in einer ostdeutschen Kleinstadt. Die Sonne ist längst untergegangen, das Wasser kühl, die Welt still. Nur das leise Plätschern, wenn Tilda sich vom Beckenrand abstößt, und die Zahl in ihrem Kopf: eins, zwei, drei – bis 22. Jeden Tag. Es ist ihr einziger Rückzugsort, ihr Ritual, ihre Rettung. Denn außerhalb des Beckens türmt sich das Leben.

Tilda ist Anfang 20, studiert Mathematik, lebt noch bei ihrer Mutter – und zieht nebenbei ihre zehnjährige Schwester Ida groß. Die Mutter trinkt, der Vater ist nicht da, Verantwortung bleibt liegen, wenn Tilda sie nicht aufhebt. Sie ist nicht nur Schwester, sondern Mutter, Kummerkasten, Schutzschild. Und dennoch: Sie hält alles zusammen, fast übermenschlich kontrolliert, fast nie laut.

Dann das Unerwartete: ein Angebot für eine Promotionsstelle in Berlin. Weg von zu Hause, raus aus dem Trott, rein ins eigene Leben. Doch was passiert mit Ida? Und darf man gehen, wenn man gebraucht wird?

Caroline Wahls Debütroman „22 Bahnen“ stellt solche Fragen – leise, eindringlich, niemals pathetisch. Mit Viktor, dem Bruder eines alten Freundes, tritt eine zweite Stimme in Tildas Leben. Zwischen Trauer und Schuld entsteht eine leise Liebesgeschichte. Doch sie bleibt Nebensache. Im Zentrum stehen die beiden Schwestern, ihre bedingungslose Bindung, ihre alltäglichen Kämpfe und kleinen Siege.

Was „22 Bahnen“ besonders macht, ist die Sprache. Direkt, ohne Schnörkel, mit einem Blick für das Wesentliche. Wahl beobachtet mit Empathie, aber ohne Kitsch. Sie zeigt, wie sich Fürsorge anfühlt, wenn sie keine Wahl ist, sondern Pflicht. Wie schwer es ist, sich selbst zu spüren, wenn man immer für andere da sein muss.

Dieser Roman ist keine spektakuläre Geschichte, sondern ein stiller Sog. Ein Plädoyer für kleine Schritte, leise Hoffnung, stille Stärke. Und für alle, die schwimmen, um oben zu bleiben.

Fazit

„22 Bahnen“ ist ein tiefgehender Coming-of-Age-Roman über Verantwortung, Geschwisterliebe und die stille Sehnsucht nach Freiheit. Lesenswert für alle, die sich fragen, wie viel man tragen kann – und was passiert, wenn man loslässt.

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