Zürich. Wenn Dorothee Elmiger schreibt, dann entstehen keine einfachen Geschichten – es sind Expeditionen in das, was Sprache, Erinnerung und Wahrheit miteinander verhandeln. Ihr neuer Roman „Die Holländerinnen“ (Carl Hanser Verlag, 2025) ist ein solches literarisches Wagnis. Eine Geschichte über zwei Frauen, die in einem tropischen Regenwald verschwinden – und über jene, die versuchen, dieses Verschwinden zu erzählen.
Ein Theaterprojekt im Dschungel
Alles beginnt mit einer Idee: Ein Theatermacher will ein Stück über zwei niederländische Forscherinnen inszenieren, die in einem fernen Land spurlos verschwunden sind. Die Erzählerin – eine Schriftstellerin – schließt sich der Gruppe an. Gemeinsam brechen sie auf in die Wildnis, um den Stoff zu „erforschen“.
Was als künstlerisches Experiment beginnt, wird bald zu einer existenziellen Reise. Zwischen tropischer Hitze, schwirrenden Insekten und einem Gefühl der Bedrohung verliert sich die Grenze zwischen Inszenierung und Realität. Elmiger verwandelt diese Kulisse in ein pulsierendes Sprachgeflecht, in dem jede Beobachtung, jedes Wort, jede Erinnerung vibriert.
Wenn Erzählung zur Expedition wird
„Die Holländerinnen“ ist kein klassischer Abenteuerroman, kein Krimi, kein Bericht. Er ist ein literarischer Versuch über das Erzählen selbst – darüber, wie Geschichten Macht entfalten, wie sie Wahrheiten formen und wie sie zugleich immer wieder zerfallen.
Elmiger baut eine doppelte Bühne: Die eine liegt im Dschungel, die andere in einem Hörsaal, in dem die Erzählerin später eine Poetikvorlesung hält. Dort spricht sie über die Ereignisse – über das, was vielleicht passiert ist, und das, was nie geschehen konnte.
Dabei entfaltet sich ein dichter, poetischer Text voller Brüche und Andeutungen. Elmiger schreibt, als würde sie sich durch Nebel tasten: vorsichtig, präzise, aber mit einer unerschütterlichen Entschlossenheit, das Unaussprechliche zumindest zu umkreisen.
Der Klang des Unheimlichen
Lesend spürt man schnell: Dieser Roman ist kein Ort der Ruhe. Unter der Oberfläche lauert ein unheimlicher Sog. Der Dschungel steht nicht nur für das Fremde, sondern auch für die innere Dunkelheit der Figuren – und vielleicht auch für die der Autorin selbst.
Elmiger konfrontiert die Lesenden mit Fragen, die keine klaren Antworten haben:
Was ist Erinnerung? Was ist Projektion? Wie erzählt man ein Verschwinden, ohne es zu banalisieren?
Die Prosa gleicht dabei einer Partitur aus Brüchen, Wiederholungen und leisen Echos. Manchmal scheint sie fast dokumentarisch, dann wieder schwebend und traumhaft. Genau in dieser Schwebe entfaltet sich ihre Kraft.
Literarischer Mut, sprachliche Präzision
Dass Elmiger für diesen Roman den Deutschen Buchpreis 2025 gewonnen hat, überrascht niemanden, der sie kennt. Schon in früheren Werken wie Aus der Zuckerfabrik bewies sie, dass sie zu den eigenständigsten Stimmen der deutschsprachigen Literatur gehört.
Mit Die Holländerinnen geht sie noch weiter: Sie verbindet essayistische Reflexion, poetische Intensität und erzählerische Offenheit. Das Buch liest sich wie ein literarischer Spagat zwischen Joseph Conrad und Marguerite Duras – mit einer klaren, modernen Schweizer Stimme.
Eine Lektüre, die fordert – und belohnt
Man braucht Geduld für dieses Buch. Es gibt keine einfache Handlung, keinen linearen Spannungsbogen. Doch wer sich darauf einlässt, erlebt eine der dichtesten, sprachlich schönsten Arbeiten der letzten Jahre.
Die Holländerinnen ist eine Einladung, sich im Lesen zu verirren – und vielleicht ein Stück von sich selbst im Dunkel zu entdecken.
Fazit
Dorothee Elmiger hat mit Die Holländerinnen einen Roman geschrieben, der sich jeder einfachen Kategorie entzieht. Er ist Erzählung und Essay, Dichtung und Dokument, Fiktion und Wahrheit zugleich.
Es ist ein Buch über Macht, über das Verschwinden und über die Frage, ob das, was wir erzählen, jemals „wahr“ sein kann.
Wer mutige, reflektierte Literatur liebt, sollte dieses Buch lesen – nicht, um Antworten zu finden, sondern um das Fragen wieder zu lernen.
Quelle: Hanser Verlag