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Anneliese Ehrhardt (geb. Flock)

Spurensuche auf der Johannesburg – Wie Anne Flock das Schicksal ihrer Familie aufarbeitete

Papenburg, Sögel – Es ist eine Geschichte, die tief unter die Haut geht. Anne Flock, geborene Flock, wurde 1957 in Sögel geboren und verbrachte viele Jahre ihres Lebens mit einer Frage, die keine Ruhe ließ: Was war mit ihrer Familie geschehen? Wer war ihr Vater wirklich – und warum sprach niemand über ihren Onkel Fritz? Die Antwort fand sie nicht auf Anhieb, sondern durch jahrelange Recherche, Begegnungen und Dokumente. Im Zentrum ihrer Nachforschungen steht die Erziehungsanstalt Johannesburg im heutigen Stadtteil Börgermoor von Papenburg.

Die verschwiegenen Jahre nach dem Krieg

Mathias Flock, Annes Vater, stammte ursprünglich aus Köln. Nach der Ausbombung 1943 wurde seine Mutter Elisabeth Josephine Flock, geborene Augustin, mit ihren sechs Kindern mehrfach evakuiert – zuletzt nach Nienburg. Dort passte die alleinstehende katholische Frau nicht ins dörflich-evangelische Bild. Die Kinder wurden vom Jugendamt in verschiedene kirchliche Einrichtungen gebracht – alle von Nienburg aus zum Bernwardshof Himmelsthür.

Im Alter von 16 Jahren kamen die Jungen zur Johannesburg. Ziel war es, sie zur Arbeit auf Bauernhöfen einzusetzen. Die Chronik der Johannesburg berichtet, dass für 300 Außenstellen ein Pater zur Betreuung der Bauernhöfe abgestellt war – bei gleichzeitig 150 Kindern als Heimschläfer auf der Burg.

Ein tödlicher Unfall und sein Schweigen

Am 18. April 1955 endete das Leben von Fritz Flock unter tragischen Umständen. Bei der Feldarbeit in Leese scheute ein Pferd vor einer Bahn, Fritz wurde unter das Gespann gezogen und tödlich verletzt. Die Sterbeurkunde des Standesamts Leese bestätigt die Todesursache, ein Artikel in der Lokalzeitung „Die Harke“ vom 19. April 1955 beschreibt den Vorfall nüchtern als „unappetitlichen Unfall“.

Offiziell war Fritz zu diesem Zeitpunkt noch unter der Obhut der Johannesburg. Ein Arbeitsvertrag zeigt: Der aufnehmende Bauer hatte monatlich 70 D-Mark an die Johannesburg zu zahlen. Fritz selbst erhielt 4 D-Mark pro Woche, Unterkunft und Verpflegung inklusive. Seine Großmutter klagte zeitgleich über finanzielle Not – für vier Personen erhielt sie nur 40 D-Mark Sozialhilfe, da ihr Mann nach einer Kriegsverletzung nicht arbeitsfähig war.

Ein Archiv erzählt, was lange verborgen war

2015 erhielt Anne Flock Zugang zu über 650 Seiten an Originaldokumenten im Niedersächsischen Landesarchiv: Korrespondenzen, Gutachten, Arbeitsanfragen und medizinische Berichte. Diese offenbaren ein System, das Kontrolle ausübte, wo es eigentlich Schutz bieten sollte. Besonders erschütternd: Die Bedingungen, unter denen Kinder von ihren Familien getrennt wurden – oftmals aus wirtschaftlicher Not heraus.

Als Anne Flock 2015 die Johannesburg besuchte, sagte der damalige Direktor Wichard Klein zu ihr: „Frau Flock, Sie sind die erste Person aus der zweiten Generation, die hierherkommt und sich erkundigt. Nur ganz wenige, die hier leben mussten, trauen sich zurück. Alle fühlen sich stigmatisiert.“

Erinnerung als Verantwortung

Für Anne Flock war es ein langer Weg. Erst 1996 fand sie ihre Mutter wieder, die damals in einem Pflegeheim lebte – ohne je über ihre Kinder gesprochen zu haben. Ihre Recherchen führten sie in Archive in Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, den Niederlanden und den USA.

Am kommenden Mittwoch wird sie ein letztes Mal nach Papenburg fahren, gemeinsam mit einer Reporterin das Gelände der ehemaligen Johannesburg besuchen – ein Ort des Schmerzes, aber auch ein Ort der Aufklärung und Erinnerung.

Ein System im Rückblick

Die Geschichte der Familie Flock steht exemplarisch für viele Schicksale nach dem Zweiten Weltkrieg. Die institutionelle Heimerziehung dieser Zeit hat Spuren hinterlassen, die bis heute nachwirken. Erst seit den 2010er Jahren beginnt eine umfassende gesellschaftliche Auseinandersetzung mit diesem dunklen Kapitel deutscher Geschichte.

Weitere Informationen zur historischen Heimerziehung und Unterstützungsangebote bietet das Deutsche Institut für Jugendhilfe und Familienrecht e. V..

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