Wien. Bei rund einem Drittel der Long-Covid-Betroffenen finden Ärzt:innen keine Ursache für teils schwerwiegende Symptome. Forschende an der Medizinischen Universität Wien unter der Leitung von Kardiologin Mariann Gyöngyösi versuchen nun, molekularbiologische Marker mit anderen Diagnoseverfahren zu verknüpfen. Dies könnte wichtige Hinweise auf mögliche Therapien liefern und Anlass zur Hoffnung für Betroffene geben.
Long Covid, auch als chronisches Erschöpfungssyndrom bekannt, betrifft vorwiegend Frauen und stellt das Gesundheitssystem vor große Herausforderungen. „Manche Menschen sind arbeitsunfähig. Schon einfache Tätigkeiten wie der Haushalt oder eine kurze Radtour sind so anstrengend, dass sie danach ins Bett fallen und kaum aufstehen können“, berichtet Gyöngyösi, die auch die wissenschaftliche Long-Covid-Studienambulanz leitet.
Das größte Problem sei nach wie vor die fehlende zuverlässige Diagnose. „Es fehlen Biomarker, typische bildgebende Verfahren oder andere diagnostische Untersuchungen, die trotz der vielfältigen Symptome für Long Covid spezifisch sind“, erklärt Gyöngyösi. Im Rahmen eines vom Wissenschaftsfonds FWF geförderten Projekts untersucht sie Biomarker als mögliche Krankheitsmerkmale und analysiert dafür die Daten der Studienambulanz auf neue Weise. „Wir gehen tief in die Molekularbiologie, denn mit klassischen Laborwerten kommen wir weder diagnostisch noch therapeutisch weiter.“
Während bei einem Großteil der Patient:innen konkrete, behandelbare Veränderungen festgestellt werden können, bleiben 30 bis 40 Prozent der Betroffenen ohne klinisch fassbare Auffälligkeiten. Hier sei es notwendig, „tiefer zu graben“, so Gyöngyösi. Ihr Team sucht daher nach molekularbiologischen Markern wie microRNAs, zellfreier DNA in Körperflüssigkeiten oder Proteinsignaturen. Erste Analysen von Proteinen im Blut von 100 Patient:innen zeigten verstärkte oder abgeschwächte Vorkommen bestimmter Proteine, die auf ein entgleistes Immunsystem hinweisen könnten. Diese ersten Ergebnisse wurden bereits von der amerikanischen kardiologischen Fachgesellschaft gewürdigt und werden derzeit in einer größeren Patientengruppe bestätigt.
Gyöngyösi möchte das Forschungsprojekt nun auf eine neue Ebene heben, indem sie Diagnoseansätze vernetzt: „Long Covid ist eine Multi-Organ-Erkrankung, deshalb ist es schwierig, einen einzigen Biomarker zu finden, der für alle Organe oder alle Symptome spezifisch ist. Was wir stattdessen brauchen, ist die Netzwerkmedizin – das bedeutet, sich das Netzwerk der vielen verschiedenen, kleinen Veränderungen anzusehen.“ Dafür arbeitet das Team mit Expert:innen aus Bioinformatik und Molekularbiologie zusammen, um bildgebende Verfahren wie Magnetresonanztomografie, klassische klinische Untersuchungen und die neuen molekularbiologischen Einsichten zu kombinieren.
„Es ist essenziell, dass wir diese Ebenen – Bildgebung, Klinik und Molekularbiologie – miteinander verbinden. Dann finden wir vielleicht eine Komposition von Parametern, die uns erlaubt zu sagen, welche Person an Long Covid erkrankt, und es ermöglicht, den Verlauf abzuschätzen. Das ist diagnostisch wichtig, aber auch weil es die Forschung für eine Therapie anleiten kann“, ist Gyöngyösi überzeugt.
Bislang ist die Therapie von Long Covid rein symptomatisch und entsprechend komplex. Es gibt über 200 dokumentierte Symptome, die individuell sehr unterschiedlich ausfallen können. Die häufigsten Symptome betreffen das Nervensystem, gefolgt vom Herz-Kreislauf-System und der Lunge. Etwa 60 bis 70 Prozent der Betroffenen sind Frauen. Typisch ist eine Belastungsintoleranz, oft in Form einer Myalgischen Enzephalomyelitis/Chronisches Fatigue Syndrom (ME/CFS), sowie Kreislaufbeschwerden. Von Long Covid spricht man, wenn Patient:innen drei Monate nach einer Infektion immer noch Beschwerden haben oder neue Beschwerden aufgetreten sind.
Seit Beginn des Forschungsprojekts Mitte 2022 habe sich das Wissen über Long Covid enorm vergrößert. Gyöngyösi berichtet, dass inzwischen über 20.000 Fachartikel zur kardiologischen Behandlung existieren, im Vergleich zu einer Handvoll zu Beginn. Zudem deuten immer mehr Forschungsergebnisse darauf hin, dass die Symptome nicht allein als Folge einer Covid-19-Infektion auftreten, sondern allgemein nach viralen Infektionen, etwa mit Influenza-Viren, als „postvirales Syndrom“.
Trotz der Komplexität bleibt die Ärztin optimistisch: „Gerade bei Patient:innen, bei denen wir keine objektiven Befunde finden, sehe ich gute Heilungschancen. Bei vielen sehen wir, dass es ihnen nach zwei oder drei Jahren plötzlich wieder besser geht. Diese Hoffnung müssen wir den Betroffenen geben.“
Das Projekt „Prädiktive Biomarker des Post-Covid-Syndroms“ wird vom Wissenschaftsfonds FWF mit rund 400.000 Euro gefördert und läuft bis 2026.